Eine Sensation: Die Stiftung Warentest wollte ein Buch herausgeben mit kritischer Analyse und Bewertung von Natur- und Alternativmedizin. Begeistert hat die Zeitschrift Stern die Chance für eine Vorveröffentlichung aufgegriffen: Krista Federspiel, eine der beiden Autorinnen, und ihr Kollege Hans Weiss boten an, eine Wallraffiade durch diese Szene zu unternehmen und sich von je zehn Naturheilern eine Diagnose erstellen zu lassen. Der Stern garantierte eine großzügige Bezahlung für die Reportage und forderte einen zweiten Teil an, in dem von Alternativmethoden Geschädigte namentlich vorgestellt werden sollten. Zum Nachweis, dass wir Journalisten tatsächlich bei den angegebenen Naturheilern waren, kam jedes Mal ein Fotograf mit und hielt das Geschehen fest.

Die eigene Haut zu Markte zu tragen war so belastend, dass wir uns den Druck in anschließenden Gesprächen von der Seele reden mussten. Jeder Heiler dichtete uns mehrere Krankheiten an: Insgesamt wurden uns 38 Krankheiten sowie eine Unzahl von Störungen und Allergien attestiert und mehr als 130 Medikamente verschrieben. Als die Reportage „Wunderheiler und Krankbeter“ im Stern 49/1991 zu lesen war, löste die darin erhobene Kritik so viel Empörung und massive Heilpraktikerproteste aus, dass die Redaktion aus Angst vor Leserverlust die Veröffentlichung des zweiten Teiles scheute. Sie legte ihn wochenlang auf Eis und sagte schließlich ganz ab. Man zahlte und gab die Rechte an die Autoren zurück. So kann der Bericht hier – aktualisiert – erscheinen. Die Namen der Betroffenen sind verändert.

Sekundenphänomen

„Nie mehr so eine Spritze!“ schwört Erika Barta aus der Oberpfalz.“ Weil ihr Rücken so verspannt, war und sie sich kaum mehr bewegen konnte, ging sie zum Arzt. Der bot ihr an, sie mit einer Neuraltherapie sofort zu kurieren: „Eine Injektion, und der Schmerz ist weg.“ Aber so einfach war es nicht, im Gegenteil. „Ein kurzer Stich in den Rücken – und ich hatte rasende Schmerzen.“ Zu Hause fiel der dreifachen Mutter das Atmen so schwer, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Kaum auf der Tragbahre, wurde sie bewusstlos. Die Spritzennadel hatte den Lungenflügel verletzt, die Lunge war in sich zusammen gefallen. Operation. Nach drei Tagen brach die Lunge nochmals zusammen, zweite Operation. Nachbehandlungen. „Beschwerdefrei war ich erst nach zwei langen Jahren,“ erzählt die Betroffene. Viele Leidende hoffen auf eine wundersame Wirkung. Doch Wunder sind selten, Zwischenfälle häufig. In der medizinischen Fachliteratur sind zahlreiche solche Zwischenfälle dokumentiert, darunter auch Todesfälle. Besonders gefährlich sind tiefe Injektionen im Hals- oder Rumpfbereich, bei denen die Nadel 15 Zentimeter tief bis an einen Nervenstrang geschoben wird, der entlang der Wirbelsäule verläuft, um Schmerzmittel zu platzieren.

Gesunde krank behandelt

Gesundheitsbewusst lebten Nora und Helmut Nachmann, aßen Gemüse aus dem eignen Garten, backten ihr Brot selbst und wohnten in einem Bio-Haus. Weil Herr Nachmann gelegentlich an Kopfschmerzen litt, besuchte er einen Arzt mit Naturheilpraxis in Marburg. Der riet zu einer Ozonbehandlung mit Eigenblut, um die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Das klang natürlich, deshalb machte auch die Ehefrau mit: 16 Mal wurde den beiden 120 Milliliter Blut aus der Vene entnommen, über einen Apparat mit Ozongas durchperlt und wieder in den Körper zurückgeführt. Kosten: umgerechnet 1500 Euro für jeden. Auch die Nachbarn ließen sich von dem Verfahren überzeugen und behandeln. Doch alle vier wurden nicht fit, im Gegenteil. Sie begannen unter Übelkeit zu leiden, verloren an Gewicht, wurden nervös, gereizt, verstimmt und fühlten sich abgeschlagen. Der Arzt erklärte dies als eine erwünschte Reaktion und riet, viel Tee zu trinken. Doch Frau Nachmann fühlte sich immer schlechter. Speisen, die sie früher liebte, lösten nun geradezu Ekel aus. Schließlich bekam der Nachbar eine gelbe Haut, und kam ins Krankenhaus. Dort stellte man eine Hepatitis fest. Das veranlasste die drei anderen, sich ebenfalls untersuchen zu lassen. Ergebnis: Auch sie litten an Hepatitis. Konnte das Zufall sein? Alle vier waren nach der gleichen Behandlung erkrankt, monatelang arbeitsunfähig und bettlägerig. Der Lehrer Nachmann musste sich sogar karenzieren lassen. Hepatitis ist eine schwer wiegende Erkrankung. Im Durchschnitt wird nur jeder zweite Erkrankte wieder gesund.

Hohe Dunkelziffer

Frau Nachmann gab in der Landeszeitung eine Anzeige auf, und auf Anhieb meldeten sich neun Schicksalsgenossen: Ozonbehandlung, nachher Hepatitis. Daraufhin erstatteten Nachmanns Strafanzeige gegen den Arzt und verlangten Schadenersatz von der Versicherung. Professor Werner Sklenzka, damals Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Marburg, meinte dazu: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die bisher dokumentierten Fälle von Hepatitis nur die Spitze eines Eisbergs darstellen.“ Manche Ozonisierungsgeräte konnten nicht ausreichend sterilisiert werden, weshalb sie immer wieder Infektionen übertrugen. So bekamen drei Patienten, alle Klienten einer Arztpraxis am Chiemsee, innerhalb kurzer Zeit Hepatitis. Die Schadenersatzklagen liefen jahrelang, weil die Beweissicherung für die Kläger sehr schwierig ist. Professor Wolfgang Eisenmenger, Leiter des gerichtsmedizinschen Instituts München, hatte schon Jahre zuvor Schadens- und Todesfälle registriert und vor der Gefahr der Ozontherapie gewarnt. Worauf die ärztliche Gesellschaft für Ozonhterapie versuchte, gegen ihn zu klagen, um ihn mundtot zu machen. Das Risiko sich zu infizieren besteht auch bei Akupunkteuren, die keine Einwegnadeln benützen, aber ihre Nadeln nicht ausreichend desinfizieren. Der Gerichtsmediziner Andreas Gertler von der Humboldt-Universität berichtet, dass zwei Prozent der Hepatitisfälle auf Ansteckung durch Akupunktur beruht. Zwischenfälle passieren auch dann, wenn die anatomischen Kenntnisse oder die Ausbildung des Therapeuten nicht ausreichen, denn Empfehlungen zur Stichtiefe gehen je nach Fachschrift von zwei Millimeter bis zu acht Zentimeter tief. Stichverletzungen an Gefäßen, Nerven, Leber, Milz, Nieren, Blase, Mittelohr, Augapfel, am Herzen, dem Herzbeutel und an der schwangeren Gebärmutter sind dokumentiert. Zwei Todesfälle sind gerichtsbekannt. Aber an die Öffentlichkeit dringen Meldungen über Risiken der so genannten Naturheilverfahren kaum.

Jungbrunnen

Die Behandlung mit Frischzellen soll gegen alles und jedes wirken und ein Jungbrunnen sein. Ilse Burkhard aus dem bergischen Land litt 1987 unter einer schmerzhaften Nervenentzündung und wurde von ihrer Krankenversicherung an den Vertrauensarzt, einen Neurologen, verwiesen. Er bot ihr eine Frischzellenkur mit gefriergetrockneten Organzellen an, sehr preiswert, nur 1500 Euro. „Hätte er mir gesagt, wie gefährlich das ist, hätte ich nie zugestimmt! Am nächsten Tag spritzte er mir sechs Ampullen. Mir blieb die Luft weg und mir wurde übel, erinnert sich die Patientin.“ Eine allergische Reaktion. „Als ich aufwachte, war ich an Schläuche und Apparate angeschlossen.“ Fünf Tage lang lag sie im Koma. Die Versicherung des Arztes zahlte – wenn auch widerstrebend – 4000 Euro Schmerzensgeld. Frischzellenkuren hatten bis dahin bereits 30 Todesfälle durch allergische Schockreaktion gefordert, auch durch verarbeitete Organpräparate sind drei Todesfälle dokumentiert. Frischzellentherapie mit Fertigarznei aus kompletten Tierzellen wurde in Deutschland und Österreich verboten, aber es gibt in Deutschland nach wie vor Kliniken, die ganz legal Schafherden halten, Muttertiere schlachten und aus Gewebeteilen der Ungeborenen Injektionsmittel herstellen. Da diese laut Gesetz keine Fertigarzneimittel sind, brauchen sie nicht wie Arzneimittel behördlich zugelassen zu werden. Die Verantwortung trägt ausschließlich der Behandler – die Folgen der Patient.

Diagnostik aus dem Kristall

Nicht nur alternative Falschbehandlungen richten gelegentlich Schaden an. Bedenklich sind auch alternative Diagnoseverfahren: Kein einziges kann eine zutreffende Aussage machen. Manche Anwender behaupten, „Warnzeichen“ von Krankheiten entdecken zu können, die angeblich demnächst ausbrechen werden. So werden die Klienten bei der Stange gehalten. Als Erfolg einer Behandlung gilt dann, dass es nicht zu der Erkrankung kommt. Böses ist Frau Angelika Lauscher widerfahren: „Als ich den Befund in die Hand bekam, bin ich umgekippt.“ Mit Schrecken erinnert sie sich an den Tag. „Da stand: HIV-Infektion im Stadium I!“ Die Frau erlitte einen Nervenzusammenbruch. Ihr Hausarzt führte einen Kontrolltest durch und musste feststellen, dass nicht nur die Hiobsbotschaft HIV, sondern auch alle weiteren von dem Naturarzt gestellten Diagnosen falsch waren, wie zum Beispiel „TBC-Zeichen in den Nieren, leukämischer Prozess, virutoxische Degeneration der Lymphe, toxigen gestörte Lungen, Funktionsstörung der Nebennieren, Belastung der Leber“. Trotzdem verlangte der Naturarzt für die Untersuchung 212 Euro und bestand darauf, dass sich auch ihr Ehemann bei ihm einem HIV-Test unterziehen sollte. Die Patientin, die mehrere Monate lang psychologische Unterstützung benötigte, verweigerte die Zahlung; die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung und verpflichtete den Arzt zu einer Sühnezahlung von 500 Euro an eine gemeinnützige Vereinigung. Trotzdem erstellt der Naturarzt auch weiterhin unbehelligt Diagnosen mit dem fragwürdigen spagyrischen Test und liest Krankheitszeichen aus kristallisierten Blutstropfen.

Fatale Entscheidung

Wegen anhaltender Bauchschmerzen suchte Anton Gebhard eine Heilpraktikerin auf. Sie untersuchte ihn mittels Elektroakupunktur, bei der die elektrische Spannung bestimmter Punkte an der Haut gemessen wird. Das System ist mit dem des Lügendetektors verwandt. Diagnose: Dünndarmkrebs. „Ich fragte entsetzt, welche Lebenschance ich noch habe. Da sagte sie geradeheraus: noch sechs Monate. Ich war so geschockt, dass ich beschloss, meinen Job zu kündigen. Ich wollte meine letzten Tage mit meiner Familie verbringen. Das war eine fatale Entscheidung.“ Anton Gebhard war damals 56 Jahre alt und in gehobener Position. „Drei Wochen später stellte sich heraus, dass ich gesund war.“ Der Frühpensionär hat keine Aussicht auf Schadensersatz, denn die Heilpraktikerin starb bald nach ihrer Verurteilung. Wie ist einer Frau zumute, die erfährt, dass ihr Mann unheilbar an Krebs erkrankt ist? „Ich konnte es einfach nicht glauben,“ sagt Ulrike Geber. Ihr Mann Erich war erst 41, sie hatten zwei Kinder. Sie wollte alles versuchen, um sein Leben zu retten. Da hörte sie davon, dass ein Internist in Gelsenkirchen alternative Krebstherapien durchführt. Und der machte ihr tatsächlich Hoffnung, dass ihr Mann wieder arbeitsfähig werde. Die Frau stürzte sich in Schulden, um die geforderten (umgerechnet) 15.000 Euro aufbringen zu können. Doch der Gesundheitszustand ihres Mannes verschlechterte sich zusehends, ein paar Monate später starb er. Die Frau saß auf einem Berg Schulden und verklagte den Arzt. Schließlich hatte er ihr Unmögliches versprochen und ihre Notlage ausgenützt. Einen Tag vor der Verhandlung bezahlte der Arzt den gesamten Betrag samt Zinsen zurück.

Sanfter Tod

Dass auch die sanfte Homöopathie bei unsachgemäßer Anwendung schwere Gesundheitsschäden verursachen kann, wird bei den meisten Menschen, die mit dieser Methode gute Erfahrungen gemacht haben, ungläubiges Erstaunen auslösen. Aber der Leiter des Münchner Instituts für Tropenmedizin, Professor Thomas Löscher, berichtete: „Wir haben mehrere Malaria-Patienten behandelt, die zur Vorbeugung ein homöopathisches Mittel bekommen haben.“ Für einen 35-jährigen Mann aus Staade bei Hamburg war es das Todesurteil. Vor seiner Abreise nach Kenia hatte seine Heilpraktikerin geraten, zur Vorbeugung „Malaria 2000“ zu schlucken. Nach der Rückkehr bekam er hohes Fieber, wurde ins Krankenhaus eingeliefert, und obwohl die Ärzte sich bemühten, konnten sie sein Leben nicht mehr retten. Die Homöopathen sagten sich daraufhin öffentlich von dem Mittel los. Doch als im Sommer 2007 ein Reisewilliger in London mehrere Homöopathen aufsuchte und das ärztliche Gespräch mit versteckter Kamera festhielt, konnten die TV-Zuschauer sehen, wie er zur Malaria-Vorbeugung ein Homöopathikum erhielt. Und das, obwohl die Lehre der Homöoopathie gar keine Prophylaxe kennt. Ebenfalls homöopathisch wollten einige dieser Ärzte einen Patienten mit der Diagnose Aids behandeln. Die Ausstrahlung dieser Szenen hat letztlich den Ausschlag dazu gegeben, dass das nationale Gesundheitssystem (NIH) Großbritanniens ab Jänner 2008 homöopathischen Einrichtungen den Geldhahn zudreht. Die Homöopathie war im Sommer 2005 ins Gerede geraten: In der Fachzeitschrift Lancet erschien eine große Übersichts-Studie, vom Schweizer Epidemiologen Matthias Egger und seinem Team durchgeführt, die für die Homöopathie keine über ein Placebo hinausgehende Wirksamkeit feststellen konnte. Der deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte (DzhÄ) und die österreichische Ärztegesellschaft für Klassische Homöopathie (ÄKH) bezweifeln diese negativen Ergebnisse und verteufeln kritische Aussagen als „Falschmeldungen“. Sie argumentieren, dass die rein individuell ausgerichtete Homöopathie durch wissenschaftliche Methoden gar nicht geprüft werden könne. Finden sich aber in Studien Hinweise auf eine Wirksamkeit von homöopathischer Behandlung, wird dies als Nachweis für die Wirksamkeit begeistert zitiert. Dr. Klaus Payrhuber, Präsident der ÄKH, fordert einen eigenen wissenschaftlichen „context of discovery“ und einen speziellen „context of justification“ ein – als ob es eine Nebenwelt gäbe, in der die Naturgesetze nicht gelten.

Impfmüdigkeit

In Deutschland und Österreich hat das Image der Homöopathie und auch der anthroposophischen Medizin noch keine Kratzer. Viele Anhänger dieser magischen Behandlungsmethoden wenden sich aber gegen Impfungen bei Kindern, weil diese ihrer Meinung nach „zu einer überstürzten Entwicklung“ führen, und sie verbreiten in Büchern, dass Infektionen – auch schwere Kinderkrankheiten – die Selbstheilungskräfte ankurbeln sollen. Impfgegner bombardieren in Vorträgen und via Internet junge Eltern mit falschen Behauptungen und Gerüchten über Impfschäden. Das bleibt nicht ohne Folgen, Impfmüdigkeit breitet sich aus: 2005 gab es in Deutschland zwei große Masernausbrüche, in Hessen mit einem Todesfall, und in Oberbayern mit 110 Erkrankungen. 2006 wurden insgesamt 2307 Masern-Fälle mit einer Häufung in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gemeldet. Die betroffenen Kinder hatten keinen Impfschutz. Im Mai 2007 brachen die Masern erneut in Nordrhein-Westfalen bei Kindern und Jugendlichen aus. Eine Krankheit, deren gefürchtetste Komplikation, eine schwere Gehirnhautentzündung, bei 1 von 1000 Erkrankten auftritt. 10 bis 20 Prozent davon enden tödlich, bei 20 bis 30 Prozent muss mit bleibenden geistigen Behinderungen gerechnet werden. Das Risiko von ernsten Impfschäden beträgt dagegen 1 zu 1 Million.

Krista Federspiel